Halbes Jahrhundert Hebammerie
Geburtshilfe: Mit Augen, Herz, Verstand und Händen...
Nimmt man die Arbeitserfahrungen von Christel Sachse (rechts) und Grit Bundesmann zusammen, so vereinen sie mehr als ein halbes Jahrhundert Hebammerie am Krankenhaus Borna. Sachse hat die Geburtshilfe in Borna mit aufgebaut. Bundesmann ist nun mehr als 30 Berufsjahren eine der erfahrensten Hebammen im Haus.
Wie viele Kinder sie mit auf die Welt gebracht haben, können die beiden Hebammen nicht mehr mit Bestimmtheit sagen. Aber es waren wahrscheinlich so viele, wie eine Kleinstadt Einwohner hat: Mädchen und Jungen, klein und groß, die Geburt einfach und auch kompliziert.
Christel Sachse hat 1961 die Geburtshilfe im Sana Klinikum Borna mit aufgebaut und die turbulenten Anfangsjahre erlebt. Grit Bundesmann trat ihren Dienst im denkwürdigen Wendejahr 1989 an und ist nun mehr als 30 Berufsjahren eine der erfahrensten Hebammen im Haus. Im Interview erzählen die beiden aus Ihrem Arbeitsalltag damals und heute.
Sachse: „Ich bin in einer Zeit Hebamme geworden, als es außer Penicillin noch nichts gab“
Nach dem Krieg wollte keine Frau mehr zu Hause gebären und das konnte ich auch verstehen. Die Wohnungen waren noch nicht so komfortabel wie heute, es gab noch keine Badewannen. In den 1950er und 60er Jahren gab es dann einen regelrechten Geburtenboom. Hier draußen, wo der Bergbau war, fehlte die Geburtsmedizin komplett. Damals wurden der Bau der Frauenklinik in Borna und der Bau der Oper in Leipzig zeitgleich begonnen. Das hieß, dass das Material nie gereicht hat. Mal verzögerte sich unsere Baustelle, mal die der Oper. Als wir – wir waren vier Hebammen − am 1. Januar 1961 in Borna anfingen, war noch nichts fertig. Wir bekamen ein Zimmer im ersten Obergeschoss und warteten, dass die Handwerker fertig wurden. Die Ambulanzen der Kinderabteilung und der Gynäkologie waren aber schon in Betrieb. Als die Handwerker raus waren, haben wir die ganze Etage sauber gemacht, unsere Kreißsäle eingerichtet und Wäsche gewaschen. Wir hatten zwei Kreißsäle, einen Ruheraum, einen Spülraum und einen septischen Kreißsaal − damals gab es ja noch die Lues. Am 6. März 1961 war die Eröffnung. Ich hatte Nachtdienst und nach der Eröffnungsfeier ging es gleich los. In der ersten Schicht hatten wir schon drei Kinder.
Als wir am 1. Januar 1961 in Borna anfingen, war noch nichts fertig.
Ziel der Anfangsjahre: Kinder- und Müttersterblichkeit senken
Ich habe noch erlebt, dass eine Frau am Kindbettfieber gestorben ist. Die Bekämpfung der Mütter- und Säuglingssterblichkeit war damals ein großes Thema. Es wurde alles dafür getan, dass das nicht passiert. Die Hygiene spielte eine große Rolle. Ich bin in einer Zeit Hebamme geworden, als es außer Penicillin noch nichts gab. Sauberes Arbeiten war das oberste Gebot. In unserer Ausbildung haben wir das Putzen ordentlich gelernt. Wir haben viel geputzt. Das war ja eine Braunkohlegegend und wir hatten weiße Fliesen. Jede Woche haben wir die Fliesen geputzt. Wir hatten noch drei Reinigungskräfte, das waren richtige Perlen. Die gehörten zu uns.
Spülen, spülen, spülen: Hygiene in Zeiten des Mangels
Im Spülraum haben wir alles sauber gemacht: jedes Gummi, jeden Handschuh, jede Spritze, jeden Katheter. Jeden Tupfer haben wir gewaschen, in einen Beutel getan, in die Wäscherei gegeben, und wenn der Beutel mit den Tupfern aus der Wäscherei zurückkam, haben wir sie getrocknet und neu gedreht. Das war unsere Nachmittagsarbeit. Wenn wir zum Nachtdienst kamen und – vorausgesetzt es gab nichts Geburtshilfliches – haben wir zuerst jede Spritze, jede Kanüle gesäubert. Es gab ja nichts zum Wegewerfen. Wir haben im Mangel gelebt: Mal gab`s keine Binden, mal keinen Zellstoff, dann kein Desinfektionsmittel. Es war immer irgendwas. Einmal haben wir an Heilig Abend Vorlagen gelegt, Taschen genäht und sie den Frauen als Zuteilung ans Bett gehängt.
Die neue Zeit: Pawlowsche Geburt, Überwachungsgeräte, Väter im Kreißsaal
In den 1960ern kamen die Pawlowkreißsäle auf. Ich habe in Leipzig eine Weiterbildung zur Pawlow-Geburt, also zur schmerzarmen Geburt gemacht. Das war ähnlich der Geburtsvorbereitung heute. Ich habe Vorträge über die Geburt gehalten und mit den Frauen Atmung geübt. Viele Frauen wollten die Pawlow-Geburt auch deswegen gerne, weil im Pawlowkreißsaal nur ein Kreißbett stand und nicht so viel Trubel wie im großen Kreißsaal war. Später kamen die Überwachungsgeräte auf. Die haben wir in Borna aber erst nach der Wende bekommen. Unsere Ärztin ist damals auf eigene Kosten mit den Frauen nach Leipzig zum Ultraschall gefahren. Sie müssen sich vorstellen, dass für uns damals eine Mehrlingsgeburt oft eine Überraschung war. Das war damals so. In den 1980ern wurden die Abläufe etwas lockerer. Es gab bei uns ein Wehenzimmer, das wir wie ein Wohnzimmer eingerichtet haben. Dort konnten sich auch die Väter aufhalten, die dann auch bei der Geburt dabei waren. Das war für uns und auch für die Ärzte sehr gewöhnungsbedürftig gewesen. Meist waren die Väter ziemlich gestresst, da ist auch mal einer umgefallen. Vorher durften sie ja nur zur Besuchszeit kommen. Neu war auch, dass das Kind – außer nachts − mit ins Wochenzimmer durfte. Vorher haben wir die Babys mit riesigen Wagen lediglich zum Stillen zu den Müttern gefahren. Da lagen zehn bis zwölf Kinder drin.
Wie die Mutter, so die Tochter: Hebamme als Wunschberuf
Meine Mutter war frei praktizierende Hebamme gewesen. Mein Vater war noch im Krieg. Das war für uns − ich habe noch einen Bruder − beschwerlich. Wir waren ja die meiste Zeit allein, weil die Mutter wenig zu Hause war. Ich musste zeitig ran und hab schon als Kind viel in der Wirtschaft machen müssen. Am Ende des Krieges war ich elf Jahre alt. Als die Flüchtlinge kamen, ist die Gemeinde an meine Mutter herangetreten und hat gefragt, ob sie eine Wochenstube eröffnen könne. Dafür sind wir in eine Wohnung umgezogen, in der es ein separates Zimmer mit einem eigenen Eingang gab. In dem Haus wohnte auf der linken Seite noch ein Doktor, das war gut. Meine Mutter hat die Wochenstube für mit zwei Plätzen hergerichtet und mit allem ausgestattet: mit Betten, Stubenwagen und Kinderwäsche. Bei uns gab es viele Textilfirmen. Zu denen ist sie gegangen und hat dort Babywäsche bekommen. Wir waren im Ort bekannt wie die bunten Hunde. Jede wollte bei uns entbinden. Die Kinder haben wir nachts zu uns in die Wohnung genommen, damit die Mütter schlafen konnten. Ich bin ja damals noch zur Schule gegangen. Wenn die Kinder angelegt werden mussten, habe mich gemeldet und durfte den Unterricht verlassen, um zu Hause zu helfen. Trotzdem war für mich klar, dass ich Hebamme werde. Das wollte ich gern.
Hebammenschule in Leipzig
Für mich stand aber immer fest, dass ich nicht frei praktizieren werde. Ich wollte in einer Klinik arbeiten. Nach dem Schulabschluss habe ich als Vorschülerin auf einer geburtshilflichen Station gearbeitet. 1954 bin ich dann nach Leipzig auf die Hebammenschule gegangen. 1956 wurde ich fertig und war fünf Jahre an der Universitätsklinik Leipzig, bevor ich nach Borna gegangen bin. Ich muss sagen, dass ich sehr gerne gearbeitet habe. Ich wollte den Beruf, er hat mir Spaß gemacht, und in der Uniklinik in Leipzig habe ich alles gelernt, was die Geburtshilfe herhält. Dazu gehörten auch Geburten, die nicht vorangegangen sind, wo beispielsweise Beckenend- und Querlagen nicht richtig erkannt wurden. Als Hebamme müssen Sie schon Ihr Fach verstehen. Aber ich habe auch gerne aufgehört. Körperlich ist es ein schwerer Beruf. Ich habe mein ganzes Berufsleben lang im Drei-Schicht-System gearbeitet.
Geburtshilfe am Sana Klinikum Borna
Nichts prägt unser Leben so sehr wie die Geburt eines Kindes. Was über Monate im Schoß der Mutter heranwächst, vereint im Moment seiner Geburt Freude und Schmerz, Verantwortung und pures Glück. Im Sana Klinikum Borna finden werdende Mütter und Väter vertrauensvolle Begleitung von der Schwangerschaft über die Geburt bis zur Behandlung ihrer Kinder.
Bundesmann: „Die Hebammerie ist ein originärer Handwerksberuf: die Augen, das Herz, der Verstand und die Hände“
Grit Bundesmann trat ihren Dienst im denkwürdigen Wendejahr 1989 an und ist nun mit mehr als 30 Berufsjahren eine der erfahrensten Hebammen am Klinikum. Sie erzählt von einer veränderten Sicht auf Schwangerschaft und Geburt, von Hightech und altem Wissen und dem Wunsch nach mehr Zeit für die Gebärenden.
Ein Kindheitswunsch wird Realität
Zu DDR-Zeiten kamen für den Hebammenberuf sehr viele Bewerber auf wenige Ausbildungsstellen. Dass ich die Stelle bekommen habe, war wie ein Fünfer im Lotto. Ich weiß ich noch, dass mein Vater Geburtstag hatte, als der Bescheid kam. Das sei ja ein schönes Geschenk, hat er gesagt. Ich soll ja schon als Kind geäußert haben, Hebamme werden zu wollen. Ich war damals sechs Jahre alt und meine Schwester hat ihr erstes Kind bekommen. Damals konnte ich gerade über die Tischkante gucken. Und am nächsten Tag soll ich im Kindergarten wohl gesagt haben, ich werde mal Hebamme. Ich hatte ja keine Vorstellung, was das bedeutet. Später habe ich im Fernsehen einen Beitrag über den Beruf gesehen und gedacht, das wäre etwas. Von 1986 bis 1989 habe ich am Krankenhaus Borna gelernt. Frau Sachse war damals meine Mentorin. Am 1. September 1989 habe ich dann hier als Hebamme angefangen. Die Zeit damals im Wendejahr war wirklich denkwürdig. Die Dienstübergaben dauerten eine Ewigkeit, nicht weil es so viel Medizinisches gab, aber jeder kannte jemanden, der in den Westen gegangen war. Jeden Tag war etwas Neues. Das waren aufregende Zeiten.
Die Zeit damals im Wendejahr war wirklich denkwürdig.
Ein Thema heute: Vertrauen in den eigenen Körper
In der Zeit als Frau Sachse begonnen hat, war die Mütter- und Säuglingssterblichkeit das große Thema. Das einzudämmen, hat die Geburtshilfe der DDR sehr gut hinbekommen. Die Zahlen sind seitdem ich im Dienst bin auf konstant niedrigem Niveau. Was sich aber verändert hat, ist die Einstellung zu Schwangerschaft und Geburt. Heutzutage wird das mehr zelebriert. Schwangerschaft und Geburt sind etwas physiologisch sehr normales. Die Natur hat den Körper der Frau dafür eingerichtet, das auszuhalten. Ich sehe aber zunehmend Frauen, die ihrem Körper in dieser Hinsicht wenig vertrauen. Ich denke, das hat viel mit Medien und Internet zu tun. Die Frauen lesen und wissen viel, aber oft bereitet es sie kaum auf die wichtigen Fragen vor: Was bedeutet Schwangerschaft, was bedeutet Geburt und was bedeutet das Leben mit dem Kind in der ersten Zeit. Geburt tut weh. Das ist ganz physiologisch und der Körper hält das aus, er bildet ja selbst schmerzreduzierende Hormone. Hinzu kommt, dass auch das Kind die Geburt erlebt. Es wird über Stunden durch einen engen Geburtskanal gepresst. Mein Gefühl ist, dass Schwangerschaft und Geburt für die Frauen früher natürlicher waren.
Geburt wird bewegter und individueller
Schon zu meiner Ausbildungszeit gab es die ersten Rooming-in-Zimmer, sodass die Kinder bei der Mutter bleiben konnten. Das hat sich sehr zum Positiven entwickelt. Früher war es so, dass man der Mutter das Kind nach der Geburt kurz gezeigt hat, dann wurde es untersucht, gemessen, gewogen und angezogen und kam ins Kinderbett. Die Babys wurden nur zu den Stillzeiten rausgefahren. Im Grunde haben die Mütter ihre Kinder zum ersten Mal zu Hause nackt gesehen. Es ist gut, dass das heutzutage anders ist und die Mütter noch im Krankenhaus im Umgang mit ihrem Kind angeleitet werden. Zu Beginn haben wir die Babys noch über Nacht auf die Säuglingsstation genommen, damit die Mütter schlafen konnten, aber seit ein paar Jahren haben wir tolle neue Zwei-Bett-Zimmer, dort können die Kinder rund um die Uhr bei der Mutter bleiben. Was sich auch verändert hat, ist, dass die Frauen heutzutage viel mehr mitbestimmen können. Sie kommen in der Regel drei bis vier Wochen vor dem Geburtstermin für ein Geburtsplanungsgespräch mit Arzt und Hebamme in die Klinik. Die Frauen können ihre Wünsche äußern und die meisten Schwangeren haben genaue Vorstelllungen von der Geburt, zum Beispiel was die Geburtspositionen angeht. Auch das ist flexibler als früher. Früher haben alle Frauen liegend entbunden. Da gab es keine Diskussion. Das hat sich gewandelt. Geburt ist Bewegung. Das weiß man heute. Wobei in unserem Kulturkreis die meisten Frauen für den eigentlichen Geburtsvorgang, dem Pressen, dann doch wieder liegen. Aber die Geburt ist ja mehr als der Pressvorgang. Allerdings gibt es immer noch altes Wissen, etwa zur Lagerung während der Wehen, das in bestimmten Situationen sehr hilfreich ist, und zum Beispiel über einen stockenden Geburtsvorgang helfen kann.
Wünsche für die Zukunft: Mehr Zeit für die Gebärenden
Für meine Begriffe ist die Hebammerie ein originärer Handwerksberuf: die Augen, das Herz, der Verstand und die Hände. Die Hände und die Sinne sind unsere Hauptarbeitsinstrumente. Ich habe zum Beispiel noch gelernt, mit dem Hörrohr die Herztöne abzuhören. Heutzutage ist alles sehr instrumentalisiert. Oder die Hände; mit denen kann man das Geburtsgewicht schätzen. Man schaut sich den Bauch an, ertastet die Fruchtwalze − da gibt es so bestimmte Handgriffe − und mit ein bisschen Erfahrung kann man das Geburtsgewicht auch ohne Ultraschall bestimmen. Ich finde, die jungen Kollegen sollten sich wieder mehr auf ihre Sinne und nicht so sehr auf die Technik verlassen. Was ich mir auch wünsche, ist, dass die Hebammen ab und zu mehr Zeit für die Frauen haben. Ich habe in der Ausbildung und auch noch als Junghebamme stundenlang hinter der Frau gesessen, habe ihr den Rücken gerieben als Massage − das ist ja auch schmerzerleichternd – und mit ihr geatmet. Da konnte man spüren, wie es der Frau geht, wie stark eine Wehe ist. Ich war dann eine vertraute Person. Eine so intensive Betreuung muss sicherlich nicht immer sein. Aber auch in der heutigen Zeit ist es für manche Gebärende eine große Erleichterung.
Einer der schönsten Berufe der Welt
Die Geburt des eigenen Kindes ist für (werdende) Eltern wohl das aufregendste Ereignis ihres Lebens. Auch unsere Hebamme Hanna empfindet es jedes Mal als einen ganz besonderen Moment, wenn sie die Familien dabei begleitet: Sei es als Helferin, Trösterin oder Unterstützerin. Auf Facebook erzählt sie uns, was an ihrer Arbeit so besonders ist und warum sie sich keinen anderen Beruf vorstellen könnte.
Stand: 22.07.2022